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Titel
Zwischen Kirchturm und Minarett. Der christlich-islamische Dialog seit 1973


Autor(en)
Rüschenschmidt, David
Reihe
Religion und Moderne 25
Erschienen
Frankfurt am Main 2022: Campus Verlag
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mehmet T. Kalender, Institut für Soziologie, Georg-August-Universität Göttingen

Wie dem Titel der Studie bereits zu entnehmen ist, fasst David Rüschenschmidt den Gegenstand seiner in Münster entstandenen Dissertation metaphorisch als „Zwischenraum“ (S. 10) zwischen Kirchturm und Minarett zusammen. Er fokussiert damit das Verhältnis von Christ:innen und Muslim:innen in Gestalt des „christlich-islamischen Dialogs“ in der jüngeren deutschen Geschichte. Seine leitende Frage lautet: Was ist die Geschichte dieses „Dialogs“ in der Bundesrepublik seit 1973?

Ausgehend von zunehmender Präsenz und Wahrnehmung der Muslim:innen in (West-)Deutschland sowie kirchlichen Öffnungsbewegungen fragt Rüschenschmidt dabei genauer nach dem Verhältnis der Genese und den inneren Entwicklungen „christlich-islamischen Dialogs“ einerseits und dem sozialgeschichtlichen Kontext andererseits. Zu diesem Kontext rechnet der Autor vor allem öffentliche und kirchliche Diskurse, die beispielsweise vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Ereignisse um Islam-Bilder kreisen. Daneben betrachtet er Verflechtungen des Dialoggeschehens mit Interessen politischer Akteure und fragt schließlich auch nach dem Stellenwert „christlich-islamischen Dialogs“ im Hinblick auf Transformationen des religiösen Feldes in der Spannung von Säkularisierung und religiöser Pluralisierung.

Im Anschluss an eine konzeptionelle Auseinandersetzung mit Dynamiken religiöser Transformationen (Individualisierung, Pluralisierung, Medialisierung / Politisierung / Polarisierung) ist das Buch nach Entwicklungsperioden „christlich-islamischen Dialogs“ in der Bundesrepublik gegliedert. Als Quellengrundlage der geschichtswissenschaftlichen Darstellung dienen neben umfangreichem Archivmaterial aus kirchlichen und öffentlichen Beständen sowie seitens einiger Dialoginitiativen auch Berichte in ausgewählten Zeitungen und Zeitschriften, außerdem eine Reihe von Gesprächen mit Zeitzeug:innen. Leider bleiben letztere methodisch unreflektiert, insofern weder die Auswahl der Gesprächspartner:innen noch der Zweck der Gespräche im Hinblick auf das übrige Material thematisiert wird. Nordrhein-Westfalen bildet aufgrund der starken Präsenz von Muslim:innen und der vergleichsweisen hohen Dichte christlich-muslimischer Initiativen einen regionalen Schwerpunkt der Materialauswahl und Datenerhebung. Ich werde zunächst die als Rahmen gesetzten Konzepte andeuten und dann auf die vom Autor herausgearbeiteten Entwicklungsphasen eingehen.

Konzeptionell fasst Rüschenschmidt den „christlich-islamischen Dialog“ in zweifacher Weise. Zum einen begreift er ihn als „speziellen Modus der Begegnung zwischen Christen und Muslimen“ (S. 20). Im Kontext einer shared-history-Perspektive werden die Dialogaktivitäten als Ausdruck einer bislang vernachlässigten positiven Beziehungsgeschichte der Angehörigen beider Religionsgemeinschaften gerahmt. Entsprechende Initiativen werden dabei zu Netzwerken eingebetteter Beziehungen (vgl. S. 22) zwischen Christ:innen und Muslim:innen, über deren Beteiligte weitere Kontexte einbezogen sind (u.a. Politik, Religionsgemeinschaften, andere Dialoginitiativen). Zum anderen wird „christlich-islamischer Dialog“ auch als Diskursfeld bestimmt, in dem ein enger Bezug zwischen interpersonalen und größeren gesellschaftlichen bzw. kirchlichen Diskursen anzunehmen ist (hier besonders Islamdiskurse und ihre Verarbeitung im Dialoggeschehen).1

Vor dem Hintergrund dieser konzeptionellen Überlegungen schreitet Rüschenschmidt zu den Perioden fort, die er beim Erforschen der Entwicklungsgeschichte „christlich-islamischen Dialogs“ identifiziert hat. Nach einer Vorphase präsentiert er insgesamt vier Phasen ab den 1970er-Jahren bis ca. 2010. In der ersten Phase (ca. Anfang der 1970er-Jahre bis 1980) bildeten sich im Kontext der Aufkündigung des Anwerbeabkommens mit der Türkei neuartige Strukturen aus, die eine Begegnung von Christ:innen und Muslim:innen ermöglichten, aber noch deutlich im Kontext „der kirchlichen Ausländerarbeit und Motiven der sozial-caritativen Unterstützung“ (S. 158) standen. Im engeren Sinne religiöse Themen blieben zunächst randständig. Als ein wichtiger Faktor wird hier der Beginn des Selbstverständnisses einiger Diskursbeteiligter als religiöse Personen hervorgehoben.

Im Laufe der zweiten Phase (1980–1990) gründeten sich vermehrt Dialoginitiativen, die sich thematisch auf religiöse Inhalte und Fragen des Zusammenlebens konzentrierten. Federführend beteiligt waren hier muslimischerseits „oftmals deutsche Muslime oder solche mit einem hohen Grad formaler Bildung“ (S. 206). Die Arbeit der Dialoginitiativen war laut Rüschenschmidts Rekonstruktion einerseits auf die wechselseitige Vorstellung und die Verarbeitung von Gemeinsamkeiten und Grenzen gerichtet, andererseits auf die öffentliche Wahrnehmung und Verbesserung der Situation von Muslim:innen. Besonders für Letzteres lassen sich ambitionierte Ansätze aufzeigen (z.B. Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts, Einführung eines islamischen Religionsunterrichts), die an zu großen Hürden scheiterten (etwa an mangelnder Unterstützung seitens der Kirchen und verfassungsrechtlichen Grenzen).

Mit der dritten Phase (1990–2001) stieg die Zahl der bundesweiten Dialoginitiativen wiederum deutlich an, und es kam zu einer Ausdifferenzierung des Feldes. Unter dem Eindruck zunehmender diskursiver Polarisierung um den Islam im Kontext eines islamischen Extremismus (z.B. „Kalif von Köln“) und der Kulturalisierung globaler Konflikte (z.B. Kriege im Nahen Osten) sowie vor dem Hintergrund wachsenden antirassistischen Engagements im Nachgang etwa zu den Anschlägen in Mölln und Solingen gab es öffentliche „Wortergreifungen“ (S. 257) einiger Dialoginitiativen. Gleichzeitig erstarkten schärfere dialogkritische Stimmen, auch im Zuge aufkommender Debatten um das Kopftuch oder eine vermeintliche „Leitkultur“. Besonders hervorzuheben ist für diese Phase ein spannendes Unterkapitel zur „Interritualität“ (S. 252–255), also zu traditionsübergreifenden rituellen Handlungen, die im Kontext interreligiöser Dialoginitiativen erprobt wurden und zu denen es unterstützende oder kritische religiöse Diskurse gab. Hier zeigt sich auch eine Grenze des breiten geschichtswissenschaftlichen Zugangs der Arbeit, der einige Fragen hierzu (beispielsweise im Hinblick auf die örtlichen Aushandlungsprozesse) verständlicherweise unbeantwortet lässt und damit einen Ansatzpunkt für weitere empirische Tiefenbohrungen bietet.

Die vierte Phase (2001 – ca. 2010) wurde von den Anschlägen am 11. September 2001 eingeleitet, die die „Verdächtigungsdiskurse gegenüber dem Islam“ (S. 316) beflügelten, intensiveres öffentlichkeitswirksames Engagement der Dialoginitiativen bewirkten (Demonstrationen, Plakataktionen etc.) und „heftige[r] Kritik am christlich-islamischen Dialog“ (S. 317) Tür und Tor öffneten. Spätestens jetzt erfolgte eine Politisierung der Dialogaktivitäten, unter anderem in Form einer integrationspolitischen Nutzbarmachung (auf Bundesebene beispielsweise im Koalitionsvertrag von 2005). Gleichzeitig zeigen sich Bemühungen um Profilierung in diesem Feld auch seitens der Kirchenleitungen, etwa in Form klarerer Abgrenzungen, die den „christlich-islamischen Dialog“ und allgemeiner auch den „interreligiösen Dialog“ als eigenes umkämpftes Diskursfeld deutlich werden lassen.

Der Autor schließt seine Ausführungen mit einer Rückbindung der Ergebnisse an die einleitenden Fragen nach religiösen Transformationen in Deutschland. So betrachtet er die Anfänge „christlich-islamischen Dialogs“ in den 1980er-Jahren als Ausdruck eines religiösen Individualismus, in dem sich einzelne Gläubige beider Religionsgemeinschaften gemeinsame Freiräume jenseits ihrer – bei den Muslim:innen gerade erst im Entstehen begriffenen – Gemeinden schafften. Im Spannungsfeld von schrumpfendem religiösem Feld (Rückgang der institutionalisierten Kirchenbindung) und zunehmender Pluralisierung (beispielsweise durch die wachsende Zahl eingewanderter Muslim:innen) nimmt der „christlich-islamische Dialog“ aus Sicht Rüschenschmidts die „Gestalt einer pluralitätsfähigen Religiosität“ an (S. 331). Dies ist eine durchaus naheliegende Einordnung, der aber unter stärkerer Berücksichtigung der Vielfalt interreligiöser Begegnungsformate und mit Blick auf Dynamiken der Grenzziehung (Wer darf sich am „christlich-islamischen Dialog“ beteiligen und wer nicht?) nochmal gesondert nachzugehen ist. Die zunehmende mediale Thematisierung des Islam hat die Arbeit interreligiöser Dialoginitiativen schließlich immer wieder angetrieben und beschäftigt, jedoch besonders seit dem Aufkommen von Integrationsdiskursen auch verschiedentlich überlagert und ihre Bewertung polarisiert.

David Rüschenschmidt hat eine gut lesbare und breit ausgreifende zeitgeschichtliche Studie vorgelegt. Wer Überraschungen im Hinblick auf diskursive Kontexte „christlich-islamischen Dialogs“ oder Neuigkeiten über dessen Institutionalisierungsprozess erwartet, wird allerdings eher enttäuscht. Wer dagegen nach einer umfassenden Darstellung der Entwicklungsgeschichte christlich-muslimischer Dialoginitiativen und der Verquickung ihrer Arbeit mit gesellschaftlichen Diskursen sucht, findet in Rüschenschmidts Werk einen hervorragend aufbereiteten Zugang.

Anmerkungen:
1 Hierzu sind jüngst aufschlussreiche Studien entstanden; einschlägig ist Alexander Konrad, Umdeutungen des Islams. Bundesdeutsche Wahrnehmungen von Muslim:innen 1970–2000, Göttingen 2022. Etwas allgemeiner untersuchen Gritt Klinkhammer und Anna Neumaier in ihrem Buch „Religiöse Pluralitäten. Umbrüche in der Wahrnehmung religiöser Vielfalt in Deutschland“ (Bielefeld 2020) die Bedeutung von Diskursen für die Wahrnehmung religiöser Pluralität. Dieses Buch ist auch im Open Access verfügbar: https://doi.org/10.14361/9783839451908 (22.07.2022).

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